Sind wir nicht alle Stadtneurotiker, innen?

Sind wir nicht alle Stadtneurotiker, innen?

Eine Stadtneurotikerin oder ein Stadtneurotiker sind Menschen, die in einer Großstadt leben und von denen anzunehmen ist, dass sie sich eine Psychotherapie gönnen, oder dass dies zumindest naheliegend für sie wäre, weil sie das als normal empfinden. Was ist der Ursprung dieses Begriffs?

»Ohne Leid kein Freud«

Woody Allen


»Stadtneurotiker« ist der Titel jener filmischen Tragikomödie (USA 1977), mit der Woody Allen berühmt wurde. Als Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller spielte er einen Komiker und damit sich selbst und sein Leben.

In Manhattan machte damals jeder, dem intellektuelles und monetäres Prestige wichtig waren, eine 10 bis 15 Jahre dauernde Psychoanalyse. Diese zieht sich nicht nur als Thema durch den Film, sie steckt auch als Geist einer prinzipiell resignierten Selbstreflexion hinter Woody Allens sarkastischen Pointen.

Warum sind Witze lustig?
Im Regelfall trägt man sein Leben in die Psychoanalyse hinein. Woody Allen trägt die Analyse hinaus in sein Alltagsleben. In diesem stolpert er fortwährend über seine eigenen Widersprüche und Ambivalenzen, die er – wenn auch vergeblich – in Witzen aufzulösen versucht.

Sigmund Freuds Werk »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« dürfte der Komödiant ausgiebig studiert haben. Anders als Freud jedoch sucht er in Witzen nicht nach dem Unbewussten, sondern sucht aus dem Unbewussten Witze zu generieren – mit Welterfolg:

»Das Leben ist voller Leid, Krankheit, Schmerz – und zu kurz ist es übrigens auch.«

Wer den Film nie gesehen hat, kennt »Stadtneurotiker« als alltagssprachlichen Begriff, der es sogar in den Duden geschafft hat.

Rezensenten beschrieben diese Figur als hoffnungslos neurotisch, als ganz normal verrückt, auf der Suche nach Orientierung und dem Sinn des Lebens in seinem urbanen Umfeld, das von Stress, Hektik und Chaos gekennzeichnet ist. Der Stadtneurotiker wandert desorientiert durchs Leben und offeriert dabei die gesamte Bandbreite an menschlichen Bedürfnissen: Liebe, Zuneigung, Gewinn, Scheitern.

»Wer ein echter Stadtneurotiker ist, der hat sämtliche Macken unsichtbar im Gepäck.«

Und wir, hier, heute – haben wir nicht auch allerhand Macken im Gepäck? Ist es für uns Stadtneurotikerinnen und Stadtneurotiker nicht ganz normal, ein wenig verrückt zu sein, zumal inmitten einer ziemlich wunderlichen Welt?

Wer diese Fragen mit einem ehrlichen Ja beantworten kann, verdankt diese Einsicht nicht nur jenen Erkenntnissen Sigmund Freuds, auf die bis heute die meisten Schulen der Psychotherapie aufbauen, sondern ein Stück weit auch Woody Allen.

Von der Scham zur öffentlichen Akzeptanz
Mit dem »Stadtneurotiker« hat er seine eigenen Macken auf eine spielerische und selbstverständliche Weise öffentlich sichtbar gemacht. Er hat zugleich den reflektierten und offenen Umgang damit in die Alltagstauglichkeit übergeführt. Das psychische Problem ist heute gesellschaftsfähig.

Bis heute profitiert davon, wer sein Innenleben verstehen und auch aussprechen kann. Wer das nicht kann, erwirbt diese Kompetenzen in einer Psychotherapie. Die Schwelle, davon Gebrauch zu machen, sinkt schon seit langer Zeit. Parallel steigt der Wert »Emotionale Intelligenz« immer höher, beruflich braucht man diese schon mal vorweg im Lebenslauf. Wer zur Psychotherapie geht, sieht das immer öfter als Investment, als Krisenhilfe oder als Wellness für die Seele.

Neurose als Quelle neuer Kompetenzen
Neurotisch zu sein ist heute als das Normale erkannt und anerkannt. Tiefenpsychologische Begriffe durchziehen unsere Alltagssprache. Zur Therapie geht nicht nur, wer psychisch erkrankt ist. Wie das Auto braucht auch die Seele immer wieder mal Service. Die Therapie der Psyche ist – zum Glück! - so normal geworden wie deren Probleme. Wie Woody Allen schon sagt:

»Du kannst von Glück sagen, wenn du unglücklich bist.«

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