»Ganz normal gestört«
»Ganz normal gestört«
Das Normale ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Normal genannt zu werden gilt als Beleidigung. Wer auf sich hält, behauptet besser, »crazy« zu sein. Ein »bisschen verrückt« ist das neue Normal. Gleiches gilt für die Psychotherapie.
»Ganz normal gestört« ist der Titel eines Schlagers von Alexander Eder – der junge Sänger fand in »The Voice of Germany« seine erste Öffentlichkeit. Sich selbst für gestört und dies für normal zu erklären entspricht durchaus der Stimme Deutschlands: Der hohe Wert von Normalität begann schon Ende der 50er Jahre zu sinken. Stolz blicken wir auf Jahrzehnte gewollter Gestörtheit zurück.
Dennoch ist die bange Frage »bin ich denn noch normal?« nicht aus der Welt verschwunden. Sie taucht regelmäßig auf, wenn zur Entscheidung steht, eine Psychotherapie zu beginnen – oder eben nicht. Aber was ist denn heute noch »normal« zu nennen?
»Ich bin der
Über den sich die Nachbarn beschweren
Doch ich weiß, dass sie eigentlich gern
Auch ein bisschen so wie ich wären«
(Alexander Eder, Ganz normal gestört)
Niemand mehr scheint in die eigene Schublade passen zu wollen. Im gesellschaftlichen Megatrend des Individualismus bekommt das Gestörte und Verrückte eine wichtige neue Funktion – es wird zur unverzichtbaren Ressource für die Profilierung von Individualität. Die Aufwertung der Abweichung ist uns als Massenphänomen längst zur Selbstverständlichkeit geworden.
Wer keine Macken hätte, müsste sich welche erfinden.
Zum Glück ist das Erfinden alltäglicher Unglücklichkeiten samt den entsprechenden Symptomen nicht nötig. Der Mensch ohne Macken wurde noch nicht gesichtet. Mit der Normalisierung der Neurotizismen hat auch die Psychotherapie ihre breite Akzeptanz gewonnen.
Zum Therapeuten zu gehen wird nicht mehr schamvoll verschwiegen, sogar das Gegenteil ist immer häufiger zu beobachten: In Gesellschaft davon zu erzählen bringt in immer weiteren Kreisen Prestige. »In Dating-Apps schreiben manche in ihr Profil, dass sie in Therapie sind« berichtet die Süddeutsche Zeitung (22.04.2024). Mit dem Wort »austherapiert« verspricht man eine Sonderqualifikation für Beziehungen, in denen auch die unbewussten Konflikte ausgesprochen und ausgehandelt werden können.
»Immer mehr Menschen machen eine Therapie, um sich selbst besser zu verstehen – auch wenn sie nicht von einer psychischen Krankheit betroffen sind.«
(SZ)
Die Motive dafür sind vielfältig. Manche Klienten wünschen sich ein neues, verändertes Leben, andere wollen einfach mehr über sich herausfinden, oder sind auf der Suche nach Sinn, Orientierung und Selbstverwirklichung. Damit erfüllt der Therapeut auch eine Rolle, die einst dem religiösen »Seelsorger« vorbehalten war. Wenn auch mit deutlich profanem Selbstverständnis, das näher beim Personal Trainer im Studio für (emotionale) Fitness liegt.
Können drei Viertel Irre irren?
Normalität ist einerseits ein statistischer Begriff, andererseits eine von Institutionen definierte Bewertung. »Mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland ist jedes Jahr von einer psychischen Störung betroffen« (Spektrum der Wissenschaften 2024). Wir Normalgestörte sind da noch gar nicht mitgezählt. Schon die 25% offiziell Gestörten können zumindest eine statistische Normalität für sich reklamieren. Gemeinsam mit ihnen stellen wir normalgestörte Stadtneurotikerinnen und Stadtneurotikern die Bevölkerungsmehrheit.
Ist das nicht ziemlich verrückt?