Bin ich jetzt ein Fall für die Klapse?

Bin ich jetzt ein Fall für die Klapse?

Nachweislich empfinden immer noch viele Menschen eine starke Hemmschwelle, eine Psychotherapie zu beginnen, auch dann, wenn sie längst überzeugt sind, diese Unterstützung zu brauchen. Warum ist das so? Sechs historische Gründe lassen sich aufzählen.

1. Materialismus
Wenn Menschen die Wehwehchen des Körpers zum Arzt tragen, kaum erträgliche Schmerzen der Seele jedoch »mit sich selbst ausmachen« wollen, fußt dies nicht selten auf einem vulgär-materialistischen Weltbild, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts en vogue war: Realität ist nur, was man sehen und angreifen kann, weil es aus Materie besteht.

Materie ist aus Atomen aufgebaut, man kann sie naturwissenschaftlich verstehen und technisch verändern. Geist und Seele hingegen sind bloße Fantasien von Theologen und Philosophen, aber nicht real. Wenn man vernünftig ist, braucht man sie nicht beachten. Wer von seiner Psyche spricht, hat entweder Flausen im Kopf oder eine Erkrankung der Nerven. Im letzteren Fall ist er in eine geschlossene Anstalt einzuweisen. Die psychische Dimension des Menschen ist allemal zu verleugnen.


2. Moralismus
In den historischen Gesellschaften mit strikten Normen und hohen Anforderungen an die Selbstdisziplin durften die Menschen nur in geringem Ausmaß ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen folgen. Sie mussten einander stets sittlich und sittsam begegnen. Ihr authentisches Seelenleben war verborgen hinter einer Maske des Ordnungsgemäßen. So war es nur logisch, dahinter die bösen Antriebe zu vermuten. Wer inneren Impulsen folgte, hatte Strafe verdient. Das System der Unterdrückung von Leidenschaften führte zu manchem Überdruck und war ein ideales Biotop für Neurosen.

Was in einem vorging, behielt man für sich, um sich die zusätzliche Bedrückung durch Gefühle der Scham und der Schuld zu ersparen.


3. Evolutionstheorie
Der Verdacht gegen die »böse Seele« hatte gutteils kirchliche Hintergründe. Im 19. Jahrhundert kam Konkurrenz von den Anthropologen und Medizinern, die böse Seele wurde zur kranken Seele umgedeutet. Doch während heute Krankheit als schuldbefreiend gesehen wird, waren damals böse und krank eine Einheit:

Das »Abnorme« war der  historische Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Menschenseele. Schädel wurden vermessen, um nach auffälligen Abweichungen zu suchen und darin das »Wesen des Verbrechermenschen« zu erkennen. Abweichungen vom normgemäßen Verhalten wurden in die Anatomie projiziert. Man sprach vom »Seelen-Binnenleben des Menschen«.

Die bös-kranke Seele wurde als Rückfall in die Evolutionsgeschichte gedeutet: Je nach Schwere des abweichenden Verhaltens war der Übeltäter auf die Entwicklungsstufe eines »schlauen Fuchses« (Betrüger!) oder einer »diebischen Elster« (Dieb!) zurück gefallen, bei geringeren Vergehen nur auf die Stufe »des Wilden, der Frau oder des Kindes«. 


4. Psychiatrie
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fand eine Spaltung statt, die bis heute besteht. Der »geisteswissenschaftliche« und der naturwissenschaftliche Zugang zum Verstehen des Innenlebens entwickelten sich auseinander.

Sigmund Freud nannte sich anfangs »Nervenarzt«, später Psychoanalytiker. Die Anerkennung der Nervenärzte blieb ihm versagt, er wurde zum Gründer jener geisteswissenschaftlichen Tradition, aus der die meisten heutigen Methoden der Psychotherapie hervorgegangen sind.

Die von Einfühlung befreite Psychiatrie indes hat in ihrer Historie einige Kapitel geschrieben, auf die sie nicht länger stolz ist. Lobotomie etwa, das Zerschneiden der Verbindung zwischen den Gehirnhälften. Zwangsweise Kaltwasser-»Therapie«. Oder die Elektroschock-Therapie als Allheilmittel. Schreckensbilder, die im kulturellen Gedächtnis Spuren hinterlassen haben. Auch die heutige Konzentration auf medikamentöse Behandlung stößt immer wieder auf die Kritik, den Körper als Maschine zu veranschlagen und das Innere in der Außenbetrachtung nicht in den Blick nehmen zu können.


5. Anstaltswesen
Der Narrenturm und die Irrenanstalten hatten einen einzigen Zweck: Menschen mit deutlich von der Normalität abweichendem Verhalten wegzusperren. Infolge dessen entstand das Bild eines gesäuberten öffentlichen Raums, der vernünftigen, sittlichen und ordentlichen Menschen vorbehalten sein sollte. In diesem störungsfreien Raum konnten sich die Anforderungen an Normalität weiter differenzieren und erhöhen. 

Neben die theologisch böse und die medizinisch kranke Seele trat die aus gesellschaftspolitischer Sicht normale oder eben abnormale Persönlichkeit. 

Erst im 19. Jahrhundert wurde der Anstaltszweck des Verwahrens der »Wahnsinnigen« durch die Bemühung um deren Besserung erweitert, mit gut gemeinten Foltermethoden wie eben beschrieben. Das Irrenhaus hieß nun Nervenheilanstalt. In autoritären oder korrupten Systemen wurde die alte Tradition, politisch oder familiär unerwünschte Personen in Klöster zu verbannen, durchs Einweisen in eine »Klinik« ersetzt.

Heute gibt es viele gute Bestrebungen, das Niederspritzen aufs Notwendigste zu reduzieren, Gitterbetten wenn möglich abzuschaffen und Patienten, die weder für sich noch für andere eine Gefahr sind, in betreute Wohngemeinschaften oder auch in die Freiheit zu entlassen.


6. Selbstoptimierung
Das kulturelle Gedächtnis ist von zäher Langlebigkeit. Es wirkt über Jahrhunderte – auch ohne konkrete Überlieferung oder historisches Wissen. Es lebt implizit fort in den Worten, Erzählungen, Sinnbildern, Assoziationen, Artefakten und Werten einer Kultur. Man könnte es als kollektives Unterbewusstes verstehen.

Vieles klingt mit in der bangen Frage, ob ich denn »in die Klapse« gehöre, wenn ich in mir ein Problem verspüre, das »psychisch« zu nennen ich mich ehrlicher Weise gezwungen sehe. Bin ich ein Fall für die Psychiatrie? Ich doch nicht!

Wie stehe ich da, wofür hält man mich, wenn sich herumspricht, dass ich eine Psychotherapie brauche? Was denken Freunde und Familie, und hab ich dann beruflich überhaupt noch eine Chance? Obwohl diese Fragen unrealistisch sind, drängen sie sich geradezu auf, wenn eine Angst da ist, die nach Rationalisierungen sucht.

Das jüngste Hemmnis, sich bei psychischen Leiden therapeutische Hilfe zu gönnen, kommt aus dem Trend der Selbstoptimierung. Unter wirtschaftlichem Erfolgsdruck vermeinen viele, einen mehr als tadellosen Eindruck machen zu müssen. Doch wer sich der Optimierung verschreibt, wird erkennen, dass sich die Vorstellungen vom Optimalen nach oben verschieben, je näher man ihnen kommt. Verstärkt wird die neue Unerbittlichkeit gegen sich selbst durch die Präsenz von Social Media. Diese ergänzen die Optimierung mit Idealisierung.

Je besser die äußerliche, oft autosuggestive Selbstidealisierung gelingt, um so größer wird der Kontrast zum gar nicht idealen Innenleben empfunden. Daraus entstehen nicht nur neue Konflikte, sondern auch eine neue Quelle für Hemmnisse, Psychotherapien in Anspruch zu nehmen. Ich, ich brauch doch keine Therapie!


Das Tabu ist gefallen, es lebe die Hemmung
Ein Gang durch die Geschichte des Umgangs mit psychischem Leid zeigt eine klare Linie, die steil nach oben weist. Die Behauptung, seelische Erkrankungen seien »immer noch ein Tabu«, geht an der Wirklichkeit einer offenen, zahllose Subkulturen integrierenden Gesellschaft vorbei. Es gibt keine nennenswerte Ausgrenzung mehr. In manch urbanen Kreisen gilt es sogar als schwer verzichtbare Kompetenz, sein Innenleben psychologisch reflektiert und ungehemmt zum Ausdruck zu bringen.

Doch auch wenn wir die gegenwärtige Situation vor dem historischen Hintergrund gar nicht genug lobpreisen können, bleibt es doch eine Tatsache, dass Hemmungen, Ängste und Schwellen immer noch existieren. Das schwere Erbe der Geschichte könnte einer der Gründe dafür sein. Darüber aufzuklären war der Sinn, diese zu erzählen.

Nicht nur für psychische Leiden scheint es charakteristisch zu sein, dass oftmals eine triste Vergangenheit Chancen der Gegenwart verstellt. Auch die Gesellschaft und ihre Institutionen leiden nicht selten an jener Vergangenheit, die zu überwinden ihr bewusstes Programm ist.

Psychische Probleme sind nur noch subjektiv schlimm, sie sind es nicht mehr in der Gesellschaft.

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Sind wir nicht alle Stadtneurotiker, innen?